Therapie

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14.10.2022

Wie wichtig ist der Faktor Zeit?

Wie wichtig ist der Faktor Zeit?

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Eine Reflexion zum Rollenmodell in der orthopädischen Physiotherapie

Armin Brucker ist Physiotherapeut und Praxisinhaber einer Therapieeinrichtung in BadenWürttemberg. Sein Unternehmen, das Körperwerk-Südbaden in Freiburg und Umgebung, vereint Therapie und FitnessStudio, und das sehr erfolgreich. Als Unternehmer setzt er sich stets kritisch mit seinem eigenen Berufsstand auseinander. Hier sein Kommentar.

Im Rahmen einer Veranstaltung eines Berufsverbandes kamen die Teilnehmer schnell auf den Fachkräftemangel zu sprechen und dass die von der Krankenkasse für die Behandlungen zur Verfügung gestellte Zeit generell nicht ausreicht. Diskussionsinhalte in dieser Richtung stimmen mich wiederholt nachdenklich und führten dazu, dass ich mich mit einem offensichtlich vorherrschenden „defizitären Rollenmodell“ in der Physiotherapie auseinandersetzte.

Das Thema Zeit in der Therapie

Warum sind viele Physiotherapeuten der Meinung, dass Ihnen die von der GKV vergütete Behandlungszeit nicht ausreicht? Ist das Problem möglicherweise nicht die Zeit, sondern das eigene Rollenmodell und die mangelhafte Identifizierung der Patientenprobleme und den damit verbundenen Behandlungsansätzen?

Gesetzlichversicherte Patienten erhalten in Deutschland eine Behandlungszeit von 15 bis 25 Minuten vergütet. Die meisten physiotherapeutischen Praxen arrangieren sich mit einem 20-Minuten-Takt. Fragen, die es zu beantworten gilt, um die eigene Rolle zu definieren, will ich in diesem Beitrag zur Diskussion stellen.

Welches Rollenmodell liegt bei Physiotherapeuten vor?

Vor Kurzem führte ich ein Bewerbungsgespräch. Der Physiotherapeut beschrieb sein Rollenverständnis als „Hilfe zur Selbsthilfe“. Dieser Definition schließe ich mich hundertprozentig an. Bei einer konsequenten Ausführung dessen haben Therapeuten gute Chancen, einer großen Patientenanzahl nachhaltige Lösungen für ihre Beschwerden zu liefern.

Das Gegenteil dieses Rollenmodells würde bedeuten, Patienten entweder dominant oder ausschließlich mit passiven Behandlungstechniken zu betreuen. In dieser Rolle käme ich sehr schnell zur Ansicht, immer zu wenig Zeit für das zu haben, was ich alles machen könnte.

Wie ist ein Problem zu identifizieren?

Weiterbildungen sind inhaltlich vom Erlernen sogenannter „Techniken“ geprägt. Die Zunahme von Lösungsmöglichkeiten, Patientenprobleme „passiv“ zu lösen, führt zu einer schier unendlichen Anzahl möglicher Behandlungsinterventionen.

Wäre es nicht deutlich gewinnbringender, den Fokus in das Erkennen und Identifizieren von muskuloskelettalen Beschwerden zu verlagern? Einerseits um eine klare Definition von klinischen Mustern zu erlangen, andererseits um die Fähigkeit zu erlernen, Patienten diesen Mustern zuzuordnen und darauf abgestimmte Behandlungsstrategien zu entwickeln und anzuwenden.

Welche Fragestellungen helfen bei der Problemidentifizierung?

Für ein zukunftsweisendes Rollenmodell sollte dem Kunden möglichst viel Eigenverantwortung übertragen werden. Dies setzt – wie zuvor angeführt – eine bestmögliche Identifizierung der vorliegenden Problematik voraus. Folgende Fragen sollten gestellt werden:

  • ››› Wie ist die Sichtweise des Patienten auf sein Problem?
  • ››› Gibt es spezifische / nichtspezifische Diagnosen?
  • ››› In welcher Krankheitsphase befindet sich der Patient?
  • ››› Welcher Schmerzmechanismus dominiert?
  • ››› Welche Rolle spielen psychosoziale Faktoren?
  • ››› Gibt es Hinweise aus der Arbeit, welche die Probleme begünstigen?
  • ››› Unterstützen Lebensstilfaktoren die Probleme?
  • ››› Wie ist der generelle Allgemeinzustand?
  • ››› Wie ist das funktionelle Verhalten des Patienten?

Die Antworten sind essenziell, um klare Behandlungsstrategien umzusetzen und damit die zur Verfügung gestellte Zeit bestmöglich zu nutzen.

Rezept, Rezept, Rezept …?

Die Legitimation mit Patienten zu arbeiten, bekommen Physiotherapeuten durch Ärzte, indem diese Rezepte ausstellen. Die Regelbehandlungsmenge beträgt sechs Behandlungen à 20 Minuten. Das ergibt 120 Minuten Behandlungszeit. In zwei Stunden kann man viel erreichen.

Doch was passiert mit unserer Profession, wenn wir eine Weiterbehandlung für notwendig erachten, der zuständige Arzt aber nicht? Plötzlich haben wir keine Legitimation mehr und unsere vielfach intern wie extern angesprochene Profession hat keine Wirkung. Sie verpufft, weil wir in den meisten Konzepten über das Rezeptgeschäft hinaus keine Dienstleistungen anbieten.

Es ist wenig wirkmächtig, wenn wir ausschließlich durch das Zutun eines Arztes wirken können.

Die Zukunft

Ich plädiere dafür, zwei Arten von Dienstleistungen zu etablieren:

  • ››› Trainingsangebote oder Heimtrainingsangebote schaffen.
  • ››› Zusatzzeiten anbieten, wenn Sie meinen, die von der GKV vergütete Behandlungszeit sei nicht ausreichend.

Um den Beruf des Physiotherapeuten für die vielfältigen Herausforderungen der Zukunft zu wappnen, ist es meines Erachtens notwendig, Patienten in aktive Dienstleistungen, wie beispielsweise das medizinische Training, zu überführen. Dadurch ist Platz für neue Patienten zu schaffen. Das ist ein Ansatz, der nur mit dem entsprechenden Rollenmodell umsetzbar ist.

Um ein nichtdefizitäres Rollenmodell zu etablieren, sollten folgende Kompetenzen erlernt werden:

  • ››› Erkennen von klinischen Mustern
  • ››› Erlernen von Evidence based Behandlungsinterventionen
  • ››› Anbieten aktiver Dienstleistungen (Inhouse/ Heimtrainingsprogramme)
  • ››› Entwickeln kommunikativer Fertigkeiten, um Probleme und die dazugehörigen Lösungen in Patientensprache zu erklären

Die konsequente Schulung, Anwendung und Reflexion der o.g. vier Punkte wäre mein Vorschlag, um den Äußerungen „Wir brauchen mehr Zeit“ zu entfliehen und aktiv die Herausforderungen unseres Berufsstandes zu gestalten.

Armin Brucker


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